Podiumsdiskussion: Von Vorstellung über Romantisierung zur Ausgrenzung Geschichte, Funktionen und Folgen von Vorurteilsstrukturen am Beispiel des Antiziganismus
Die Podiumsdiskussion findet am 14.04.2024 um 11 Uhr in der Gedenkstätte statt.
Im Prozess der individuellen oder kollektiven Selbstfindung konstruieren Menschen Identitäten, die sich von einer imaginierten "Andersheit" abgrenzen: "Ich" versus "der Andere", bzw. "Wir" gegenüber "den Anderen". Diese Abgrenzung ermöglicht es uns, ein Selbstverständnis zu entwickeln, sei es auf persönlicher oder gemeinschaftlicher bzw. nationaler Ebene: Wir definieren uns darüber, was wir sind, im Gegensatz zu dem, was vermeintlich andere nicht sind. Zu diesem Zweck erschaffen dominante Gruppen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort die Deutungshoheit besitzen, Feindbilder, von denen sie sich abgrenzen können.
Auf diese Feindbilder, die aus dem Vorstellungsraum der Dominanzkultur hervorgehen, werden auf der einen Seite negative und unerwünschte Eigenschaften projiziert. Diese Projektion dient dazu, eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung zu festigen, die Mitglieder der „Wir“-Gruppe zu stärken, aber auch zu kontrollieren und zu formen. Zudem bieten sie Sündenböcke für strukturelle Probleme der Gesellschaft sowie ein Ventil für die Bewältigung von Frustrationen.
Andererseits boten diese Projektionen gleichsam Raum für eine romantisch-verklärte Sicht und hierdurch u.a. eine Möglichkeit, Kritik an der Gesellschaft zu formulieren.
Schließlich werden die als Feindbilder stilisierten Menschen oder Gruppen ausgegrenzt, indem man ihnen materielle und symbolische Teilhabe verweigert. Dadurch kann die „Wir“-Gruppe ihre privilegierte Stellung und den Zugang zu Ressourcen sichern.
Im späten Mittelalter entwickelte die europäische Dominanzkultur eine antiziganistische Vorurteilsstruktur, um mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Umbrüchen umzugehen. Sie schuf das imaginierte Feindbild des „Zigeuners“/der „Zigeunerin“ als Gegensatz zum idealen Bild des europäischen Bürgers bzw. der europäischen Bürgerin und übertrug diese Vorstellung auf real existierende Menschen. Diese wurden seitdem systematisch ausgegrenzt und verfolgt. In der Podiumsdiskussion sollen Expertinnen und Experten über die historischen Ursachen, die Funktionen und die konkreten Folgen der Vorurteilsstruktur Antiziganismus Auskunft geben.
Die Diskutierenden:
Dr. Charlotte Dany ist Professorin für Organisations- und Entwicklungskommunikation an der Hochschule Darmstadt. Sie arbeitet zur Wahrnehmung von Empfängern humanitärer Hilfe und dem Selbstverständnis von NGOs.
Jacques Delfeld Jr. ist Geschäftsführer des Verbandes deutscher Sinti und Roma, Landesverband Rheinland-Pfalz.
Dr. Laura Tittel ist Politikwissenschaftlerin. Sie ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt „Zwischen Minderheitenschutz und Versicherheitlichung“ an der der Justus-Liebig-Universität Gießen. Demnächst erscheint ihr Buch „Politische Theorie des Antiziganismus. Genese und Kritik eines modernen Herrschaftsverhältnisses“. Beiträge zur kritischen Antiziganismusforschung, Bd. 2, Bielefeld: transcript.
Dr. Thomas Wagner ist Soziologe und Publizist. Er arbeitet zu Fragen von Protest und Widerstand. Sein letztes Buch ist „Fahnenflucht in die Freiheit. Wie der Staat sich seine Feinde schuf - Skizzen zur Globalgeschichte der Demokratie“, Matthes & Seitz, Berlin 2022